In den Sommerferien, wenn das Hochland Perus gut
zu bereisen ist, beschloss ich, die entlegendsten Täler Nordperus zu erforschen.
Es war bislang nur wenig bekannt, dass in der Ostkordillere, zwischen dem nach
Norden entwässernden Marañón, und dem Abfall der Anden zum Einzugsgebiet des Río
Huallaga hin, ein Kulturvolk zu Zeiten der Inka lebte, welches diesen in
Hartnäckigkeit und Schönheit der Architektur ebenbürtig war.
Die Spitze des Eisbergs wird
eben gerade sichtbar: Kuelap, das stärkste Fort der Chachapoya, aus mehr Steinen
als die Cheopspyramide erbaut, mit 8 m dicken und 16 m hohen Mauern. Aber wer
weiß schon, dass es noch 50 (!) Städtchen mehr gibt, alle zwischen 2400 und 3200
m auf Bergrücken gelegen, die durch jüngste Rodungen dem Bergurwald wieder
entrissen werden, der sie 500 Jahre gnädig zudeckte? Die in Kopfhöhe umlaufenden
Friese, die die Rundbauten mit Mäandern, Rauten- und Zickzackmustern schmücken,
übertreffen an ästhetischem Reiz noch die klobigen Inkaquader. Die mehr als
abenteuerliche Bestattung ihrer Toten in fast unersteigbaren senkrechten
Felswänden ist durch die Funde hoch über der «Laguna de las momias» 1997 publik
geworden.
In diese Region gibt es drei
Anreiserouten: 1) Flug nach Chachapoyas, die Hauptstadt des Dep. Amazonas, nur
samstags, 2) mit dem Bus die geteerte Schnellstrasse von Chiclayo über Olmos,
den niedrigsten Pass der Anden (Abra Porculla, 2145 m), über Chamaya und Bagua
Grande, oder 3) eine abenteuerliche Piste für Geländewagen von Cajamarca über
Celendin, Balsas am Río Marañón und den Abra Barro Negro (3660 m) nach
Leimebamba. Ich kam noch ungewöhnlicher über Loja, Ecuador, die 2001
neueröffnete Grenzbrücke bei La Balsa und Jaën das Utcubambatal hinauf.
Vierradantrieb ist in der Chachapoyasregion wegen der vielen Schlaglochpisten zu
empfehlen, aber kein Muß.
Ich kannte schon 9 Städtchen,
besonders die neu freigeschlagenen um Levanto und die noch bewachsenen bei Jalca
Grande, und wollte mehr, durch das neue Buch von F. Kauffmann Doig «Die
Chachapoya» (2003) süchtig geworden. Als erstes Ziel nahm ich Purum Llacta, 37
km östlich von Chachapoyas gelegen, in Angriff. Bei der Polizei in Pipus (Km 26)
erfuhr ich, dass ich die winzige Nebenstraße etwas über Cheto hinaus bis zu
einem Lehmhaus fahren sollte, an dem ein Bach nebst Pfad von rechts aus den
Anden käme. Kaum war ich da ausgestiegen, kam eine alte Dame dahergeritten, ein
zweites gesatteltes Saumtier mit sich führend. Ob ich mitreiten wollte, nach
Purum Llacta sei auch ihr Weg? So viel Glück hatte ich selten, die steilen 400
Höhenmeter bergauf machten die Gäule in 50 Minuten. Oben verabschiedete sich die
Dame Richtung eigene Kartoffelfelder und wollte nur Gottes Lohn! Bei leichtem
Nieselregen versuchte ich nun herauszufinden, wo die Ruinenstadt lag, und
richtig, hinter den Wegehecken sah ich schon einige Gemäuer schimmern. Das Dorf
hatte einst ca. 50 Häuser, die sich in gestaffelten Bändern übereinander den
Hang bis 2500 m hinaufzogen. Davon besaßen nur zwei recht gut erhaltene die
ersehnten dekorativen Simse. Die Bauern, denen ich beim Abstieg begegnete,
konnten nicht ganz sicher sagen, ob Purum Llacta und Monte Peruvia, die oft als
nur eine Stätte auf Karten zusammengezogen werden, zwei getrennte Städte waren,
und redeten noch von einer dritten versteckten, doch zurück in Chachapoyas
bestätigte mir ein offizieller Führer diese Annahme.
Anschließend fuhr ich nach
Leimebamba und blieb zwei Tage bei der freundlichen Wirtin von «La Casona», dem
wohl besten Hotel mit Orchideengarten im spanisch-kolonialen Dorf (Einzelzimmer
35 Soles). Im Centro Mallqui, dem Museum der Mumien 4 km oberhalb Leimebamba,
liegen jetzt alle (über 100) von der «Laguna de las momias» geborgenen
Stoffbündel, deren Inhalt wissenschaftlich studiert wird. Als Zuckerl zum
Eintrittspreis gibt es dort ebenfalls einen Garten voller Orchideen, gesammelt
nur aus den umliegenden Wäldern. Diese wollte ich neben Vögeln auch in natura
sehen, und fragte daher nach geeigneten Tourren. Ja, es gäbe zwei: zur Lagune,
etwas eisig (3200 m) und beschwerlich, und eine andere in das «Valle de los
Chilchos», ein Zweitagesritt einfach. Das Tal der Chilchos? Nie gehört. Ich
entschied mich für letzteres, hatte aber nur 3 Tage übrig.
Wer kann mich führen? Ein
Hausbekannter empfiehlt mich an Joaquin, der im Nachbardorf Palmiras auch
schnell gefunden wird. Ein Mittfünfziger, faltiges braunes Gesicht, wirre Haare,
grauer kurzer – oder unrasierter? – Bart, mit Cowboyhut, verwegener Räuberblick.
Auf den ersten Blick nicht gerade Vertrauen einflößend.
Aber seine sichere
ruhige Art zu sprechen lässt mich zusagen. Also abgemacht: Zwei Saumtiere für
50, er selber 75 Soles, und die Nahrungsmittel für drei Tage sind schnell im
Krämerladen erstanden, natürlich Thunfischdosen und Spaghetti dabei, die in
seinem rußgeschwärzten Topf irgendwann aufbereitet werden sollen.
Am nächsten Tag um 7 Uhr
stehe ich pünktlich vor seiner Tür. Wir sind fast mit Satteln und Beladen der
Tiere fertig, da steht ein Indiopaar still da, die Frau eine Träne im linken
Auge. Er müsse jetzt einen Zahn ziehen, sagt Joaquin. Mir wird klar, dass die
Nackenstütze des einzigen großen Stuhls in seiner Behausung chirurgischen
Zwecken dient. Nach 10 Minuten kommt die Frau, um zwei Zähne und 20 Soles
erleichtert, wieder heraus. Er habe mal gebrauchtes Zahnarztbesteck bei einem
Krämer erstanden und seitdem kommen die Leute zu ihm, erklärt er später
beiläufig.
Um 8 Uhr reiten wir schon
bergan. 1000 Höhenmeter und 2,5 Stunden später verlaasen wir die Anbauzone mit
den Eukalypten. Reste eines temperierten Urwaldes tauchen auf, dann nur noch die
Ichu-Grasbüschel. Der uns aus einem alten Gletschertrogtal entgegenkommende Bach
verschwindet unter uns in einer Doline und kann am Hang Richtung Utcubambafluss
nicht mehr ausgemacht werden, läuft also lange unterirdisch. Kurz vor der
Passhöhe lagern wir zum Mittagsimbiss im goldbeschienenen Gras. Dann kommt ein
wirres Gelände mit bis 10 m hohen schwarzen Felsbrüchen, durch die wir die
Pferde führen müssen. Kurz unter dem Pass (Abra El Diamante, 3400 m, auch
Almendras genannt) steigen wir noch einmal ab, da der Weg über wasserüberspülte,
schräge glitschige Steinplatten geht.
Danach ändert sich die
Landschaft total. Unter den Wolken blicken wir in ein vollbewaldetes
weitläufiges Tal ohne irgendwelche Besiedlung oder Schneisen. Unter dem windigen
Pass blühen Puyas hellblau mit 1,50 m hohen Blütenständen, von Riesenkolibris
besucht. Vom Sattel aus nehme ich erste Bodenorchideen, dann meist epiphytische,
also auf Bäumen sitzende Orchideen (Bulbophylllum, Elleanthus, Epidendrum
und eine getigerte reichblühende) wahr. Um 3100 m müssen wir uns an einem
steilen urwaldbestandeneen Berg entlangdrücken. Erste bunte Bergtangaren (Anisognathus
igniventris und Buthraupis montana) streifen durch den Elfenwald.
Gegen 16 Uhr erreichen wir unser Ziel, die am Weg freistehende offene Hütte «El
Laurel» auf 2900 m mit Kochecke außen und herrlicher Fernsicht. Zwei
schulterbreite Holzplanken auf dem gestampften Boden werden uns zwei Nächte als
Schlafstatt dienen. Ich kann noch drei weitere Tangarenarten sowie einige
Blütenstecher, darunter den weissschnurrbärtigen Diglossa mystacalis,
identifizieren, dann lockt die Dose «Atún» mit viel Zwiebeln, Limonen und Brot,
runtergespült mit Cocatee. Eine halbe Stunde nach Einbruch der Dunkelheit wird
es recht kalt, und wir kriechen im vollen Ornat in die Schlafsäcke. Kurz weckt
mich eine Kreischeule, die ich am Duettgesang als Otus albogularis
anspreche.
Nach einem prächtigen
Sonnenaufgang bei reichlich Cornflakes und Yoghurt geniessen wir den
Morgengesang der Vögel. Chorleiter ist diesmal Sharpe’s Wren. Danach reiten wir
den Bergrücken stetig abwärts, bis 1000 m tiefer der Río Chilchos und die ersten
wenigen Viehweiden erreicht werden. Wir sind im entlegenen Tal des längst
untergegangenen Indianerstammes der Chilchos. Die heutigen wenigen Einwohner
bauen meist organischen Kaffee, der in Holland einen Markt findet, und vermeiden
dadurch größeren Kahlschlag für Milchkühe.
Leider reicht unsere Zeit
nicht, zu einer ungewöhnlichen, weil sehr tief liegenden Gräberstätte der
Chachapoyas weiter vorzudringen.
So kehren wir uns wieder
bergan zu unserer Schutzhütte. Ohne Wind und Regen, was hier die Ausnahme ist,
lässt es sich bei Spaghetti á la Bolognese, besser á la Joaquin, gut aushalten.
In der zweiten Nacht gehe ich um 3:40 Uhr mit der Taschenlampe raus, weil ein
Rufen und Würgen ganz in der Nähe nicht verstummen will, und kann gerade noch im
Abflug einen grossen Kauz (Ciccaba albitarsus) bestimmen. Am nächsten
Morgen regnet es, als ich Vögel beobachten will. Doch Joaquin, der mit den
Saumtieren aufschließt, sagt «Warten wir, bis es aufhört!» Tatsächlich bricht
nach 15 Minuten die Morgensonne mit einem überwältigenden gemischten Vogeltrupp
(Andenschopfohr, Perlbaumsteiger, Rauchbuschtyrann) hervor. Beglückt reiten wir
wieder auf den Pass zu und halten mit den entgegenkommenden Dörflern aus
Chilchos einen Schwatz. Jeder kennt Don Joaquin, der jahrelang dorrt
abgeschieden hauste. Manche marschieren nur für Brot und Salz oder
ein Sonntagstänzchen die vier Tage hin und zurück in die «Stadt» Leimebamba. Ein
Picknick im letzten Urwald auf grüner Rasenlichtung lässt uns entspannt von
diesem herrlichen naturbelassenen Tal Abschied nehmen. Joaquin erhält seinen
verdienten Lohn und meint zum Schluss: «Morgen gehe ich im Nachbardorf wieder
Zähne ziehen!» Der Zahn für 10 Soles, versteht sich. Bei Gefallen dieses Artikels freut er sich um
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Tino Mischler